rezension

u-lit Literatur Magazin  
 




Douglas Coupland: Miss Wyoming

Douglas Coupland:
Miss Wyoming.


Roman. Deutsch von Tina Hohl.
Hoffmann und Campe, 2001.
336 S.

Das wahre Leben im falschen finden

Am Schluss steht der Tod. Normalerweise. In Douglas Couplands neuem Roman 'Miss Wyoming' ist das anders.. Für dessen Helden bedeutet er nicht das Ende, sondern den Beginn des Lebens - des wahren Lebens.
John Johnson - Filmproduzent - und Susan Colgate – Schauspielerin - haben beide eine Nahtodes Erfahrung gemacht. Als sie in einem Hollywood-Restaurant aufeinander treffen, ist es die Begegnung zweier Menschen, die wissen, dass sie eine zweite Chance erhalten haben und die sich ihrer ähnlichen Schicksale bewusst sind.

Johns erstes ‚Treffen‘ mit Susan fand bereits vorher statt. In einem Krankenhaus, in dem er dem Tode nah und vollgepumpt mit Medikamenten und Fast-Food liegt, hat er eine Art Vision der eher zweitklassigen Schauspielerin, die ihn nicht mehr loslässt. Susan hingegen findet sich nach einem Flugzeugabsturz als einzige Überlebende zwischen Leichenteilen, Stoffteddybären und den verkohlten Überresten des Flugzeugs wieder – und verschwindet vor den Rettungsteam vom Schauplatz, um die Nachrufe auf ihr Leben im Fernsehen zu bewundern. Erst ein Jahr später taucht sie scheinbar aus dem Nichts wieder in der Öffentlichkeit auf, sehr zum Ärger ihrer Mutter Marilyn, deren gerade gewonnene Klage gegen eine Fluggesellschaft damit hinfällig wird.

Es ist Susans Rache, denn Marilyn, einer Sippe von Hinterwäldlern entstammend, programmierte die kleine Susan von Kind an auf den Erfolg, den sie selber nie hatte. Sie schickt ihre Tochter von einem regionalen Schönheitswettbewerb zum nächsten, zieht mit ihr sogar nach Wyoming, wo die Konkurrenz am geringsten ist. Susan lässt sich das Ganze mehr oder minder gefallen, bis sie eines Tages - sie hat gerade den Miss-Teen-Wettbewerb gewonnen - ihren ersten Preis an die Zweitplazierte überreicht und ihr eigenes Leben beginnt:“Marilyns schmerzerfülltes ‚Nein!‘ wurde vom Applaus übertönt, während Ken, der Conférencier, mit den Schultern zuckte und Karissa zwecks Transfer von Diadem, Schärpe, Zepter und Rosen zu Susan eskortierte.”

Zufällig sieht der Produzent Larry Mortimer die Szene und engagiert Miss Wyoming für eine Rolle in einer kleinen Fernsehserie, in der sie sich zwar nicht durch schauspielerische Begabung auszeichnet, aber vom Publikum gemocht wird. Ihre Mutter verzeiht ihr die Flucht und verprasst heimlich ihre Gagen, da sie ihrer Meinung nach Susan den Erfolg erst ermöglicht hat.

Johns Mutter ist anders. Er wohnt noch als 37-Jähriger Filmproduzent mit ihr zusammen, dankbar dafür, dass sie ihn als kränkliches Kind gepflegt hat. Sie ist das schwarze Schaf einer Familie, die in der Chemischen Industrie zu Reichtum gelangt ist, und sie hasst ihre Familie und macht sie für alle Unglücke verantwortlich, die auf der Welt passieren. Johns Karriere im Filmbusiness scheint in Teilen der Spielberg-Biographie abgeschaut zu sein, sieht man von den Telefonsex-, Bordell- und Drogenrechnungen ab, die ihn als Suchtmenschen ausweisen. John ist kein bedeutender Produzent, erntet aber anfänglich Achtungserfolge, bis er, der Workaholic und Schuldenmacher, ausbrennt und einbricht.

Das finanzielle Desaster, aber auch seine Todeserfahrung lassen in ihm den Wunsch aufkommen, ohne Geld durch Amerika zu gehen. Als wohlhabender Hollywood-Produzent prallt er dabei auf die reale Welt, die von seinen romantischen Vorstellungen weit entfernt ist: “In seiner Begeisterung, abzuhauen, hatte er das Thema Essen gänzlich übergangen, in der Annahme, das würde sich schon irgendwie ergeben. Als er sich von dem mit kühler Luft gefüllten Restaurant-Würfel entfernte, kam er nicht umhin, den farbenfrohen Kompost ungegessener Lebensmittel in den zahlreichen Mülltonnen davor zu bemerken...” Diese Erfahrung einer unbekannten Realität im eigenen Land hat so auch T.C.Boyle in „America“ dargestellt.

Susan macht nach ihrer Flucht aus dem abgestürzten Flugzeug ähnliche Erfahrungen. Sie irrt verkleidet durch die USA und sucht schließlich Eugene auf, einen Mann, der einst in der Jury eines ihrer Schönheitswettbewerbe saß und in ihr erste sexuelle Empfindungen weckte. Mit diesem Fremden lebt sie eine Weile zusammen, wird dann schwanger und flieht, nachdem Eugenes seit dem Golfkrieg eingelagertes Tanklager explodiert, zu Randy, einem Fan, der an der Absturzstelle des Flugzeugs eine Trauerkarte hinterlassen hatte.

Sie macht diesen Unbekannten zu ihrem Freund, so wie John seinerseits Freundschaft mit Ryan, dem Angestellten eines Videoladens, schließt. Über ihn lernt er wiederum die intelligente Datenfinderin Vanessa kennen, die ihm hilft, der nach dem ersten Date im Restaurant verschwundenen Susan auf die Spur zu kommen.

Die Orte an denen sich das Geschehen vollzieht, sind shopping malls, Tankstellen, nach Benzin und Frittierfett stinkende Parkplätze vor Wall Mart oder McDonalds. Hier zeigt sich das eigentliche Amerika, weitab von den üblichen Hollywood-Klischees. Ebenso durchschnittlich wie die Szenerie sind die in ihr agierenden Protagonisten. Ein arbeitsloser Wettermann, ein Videoverleiher oder ein Fan, der falsche Gerüchte über die Stars im Internet verstreut – die Figuren sind der amerikanischen Mittelschicht entnommen, insofern lässt sich “Miss Wyoming” in die Tradition von Coupland´s Romanen einordnen. Es ist seine genaue Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit, Bilder und Stimmungen zu erzeugen, die an Douglas Coupland´s Romanen so fasziniert. Dass einige Dialoge sehr einfach und einige Metaphern unangebracht erscheinen, kann möglicherweise auch an der deutschen Übersetzung durch Tina Hohl liegen - Coupland´s bisherige Romane wurden jedenfalls von Harald Riemann übersetzt.

Ähnlich wie Brett Easton Ellis nennt Coupland die Dinge bei ihren Markennamen, was einerseits den starken Einfluss der Werbung auf die gesellschaftliche Wahrnehmung bewusst macht, andererseits den Dingen eine besondere Atmosphäre verleiht, indem es sie an die künstlich erzeugten Bilder und Emotionen der Fernsehwerbung koppelt. Im Kulturmagazin auf 3-Sat wurde Coupland inmitten seiner Pop-Art-Sammlung gezeigt, was seine Affinität zu diesen Themen unterstreicht, da Pop-Art ja unter anderem mit genau dieser künstlichen Welt spielt

Thematisch geht es - wie auch in den anderen Romanen Coupland´s – sowohl um individuelle als auch um gesellschaftliche Veränderungen. Die beginnende Liebesgeschichte zwischen dem Pärchen aus Hollywood verursacht einen Wirbel im Mikrokosmos ihrer neuen Bekanntschaften. Ryan, Vanessa und Randy werden aus ihrem gewöhnlichen Leben gerissen und machen Verwandlungen durch, individuellen Veränderungen bewirken auch immer Bewegungen in der Gesellschaft. Ursache ist der Beinahe-Tod von Susan und John. Er gibt beiden die Möglichkeit, die Perspektive auf ihr Leben zu modifizieren und damit ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ein Leitmotiv bei Coupland. So machen sich in seinem Buch “Mikrosklaven” ein paar scheinbar privilegierte Angestellte von Microsoft selbständig, was nicht nur zur Folge hat, dass sie ihre eigene Firma gründen, sondern auch, dass sie eigenständige Leben zu führen beginnen, dass sie aus der großen Maschinerie aussteigen und anfangen, sich von gesellschaftlich präfigurierten Mustern zu entfernen.

n seinem wohl bekanntesten Buch “Generation X” machen sich die vom Konsum geschädigten Slacker auf den Weg nach Mexiko. “Emallgration: Abwanderung in Gegenden mit niederem Technologie- und Informationsniveau, in denen dem Konsumverhalten geringere Bedeutung beigemessen wird.” Die Figur des Videoverleihers Ryan in “Miss Wyoming” scheint diesem Roman zu entstammen - ein kreativer Kopf, der freiwillig einen unterqualifizierten Job erledigt und Vanessa, Ryans Freundin, scheint den Mikrosklaven entsprungen zu sein. Gesegnet mit hoher Intelligenz gefährdet sie bewusst ihren Job, als sie John bei der Suche nach Susan hilft.

Dass der Roman in Hollywood spielt, ist natürlich kein Zufall. Nicht nur dass Coupland ähnlich wie der Regisseur Robert Altman immer wieder versucht, bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Phänomene zu beleuchten, Hollywood ist auch das Wahrzeichen für künstliche Identitäten und kurzlebige Selbstentwürfe. Nur dass diese Selbstentwürfe eben bestimmten Normen entsprechen müssen, dass sie Regeln und Diskursen gehorchen. Das Leben von John und Susan in Hollywood entspricht diesen Regeln. Sie leben nach den Bildern, die in Hollywood produziert und reproduziert und als Idealbild in die ganze Welt exportiert werden.

Auch der eigene Körper wird diesem Bild unterworfen, wie die wiederholten Schönheitsoperationen von Susan und ihrer Mutter zeigen. Coupland kritisiert die sozialen Schönheitsoperationen, die Eingriffe in Körper und Geist, die freiwilligen Normierungen und Gleichmachereien, die sich als Ausdruck absoluter Individualität geben. Californication, wie es bei den Red Hot Chili Peppers heisst. Diesem Leitbild stellt er die Entwicklung der Protagonisten gegenüber, die erst als sie anonym und auf dem Weg ins Unbekannte sind, die Möglichkeit erhalten, eine eigene Identität auszubilden, sich selbst kennenzulernen.

Coupland, der eigentlich Kanadier ist, zeigt in seinen Büchern Menschen, die einen Gegenentwurf zu amerikanischen Leitbildern versuchen. Mit dem punktuellen Scheitern dieser Versuche ist dabei aber auch immer ein Lernen verbunden. Obwohl Johns Träume eines Landstreicherlebens á la Jack London oder Kerouac vorerst platzen, lernt er aus dieser Erfahrung. Er verändert sich und das ermöglicht ihm die später folgende eigentliche Flucht: “Keiner in dem Minivan wusste, wo es hingehen sollte, nur dass sie den Ort hinter sich ließen, an dem sie vorher gewesen waren.” Diese positiv konnotierten Fluchten führen die Protagonisten aus der Umgebung ihrer Sozialisation heraus und sind ebenfalls ein sich wiederholendes Motiv bei Coupland. Das wahre Leben im falschen zu finden scheint er zu seiner schriftstellerischen Mission erklärt zu haben. Was dem Leser schließlich als Happy End erscheint, ist lediglich die Verwirklichung der Idee, ein selbstbestimmtes und reflektiertes Leben zu führen – die Zukunft dieser Freiheit bleibt offen.

Kristian Kißling

"The Coupland Files"

Douglas Coupland´s Site


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Erstellt am 14.07.2001 ©u-lit/