Radikale französische Literatur?
"Das Modell Beigbeder / Houellebecq"

Informationen zu Biographie und Büchern von
Virginie Despentes

Rezension zu
Virginie Despentes: Pauline und Claudine

Virginie Despentes:
Wölfe fangen

Rowohlt, 2000.
223 S.

Weg mit den 60gern!

Virginie Despentes gehört zu den Extremfiguren der Literatur. Ihr Lebenslauf ist ein Traum für jeden Journalisten. Plus sie ist jung, und sie sieht gut aus. Dazu schreibt sie die härtesten, unverblümtesten Bücher, die im Bereich der Non-Genre Literatur derzeit zu finden sind. "Wölfe fangen" heisst im Original "baise moi", und es ist ein desperates Roadmovie, das zwei Frauen auf ihrem Todestrip begleitet. Beide sind Prostituierte, beide verbringen ihre Zeit nach Möglichkeit damit, sich bis zum Anschlag vollzudröhnen.

Manu, klein, hyperaktiv und respektlos, und Nadine, groß, zurückhaltend und depressiv, töten beide fast zufällig einen Menschen. Beide empfinden dies als Ausbruch aus ihrem bisherigen Leben, das zwischen Bars, Sexgewerbe und schäbigen Altbauwohnungen stattfand. Eine Flucht beginnt, von der beide wissen, daß sie nur mit Tod oder schlimmstenfalls Gefängnis enden kann. Auf dieser Flucht töten sie, beflügelt von Whiskey und anderen Drogen mehr und mehr Menschen.

DDas skandalöse an Virginie Despentes ist nicht die Tatsache, daß ihre Heldinnen gleichgültig bis lustvoll Leute umbringen, auch nicht, daß sie das zu Bildern tun, die sie aus Filmen, Poptexten und Magazinen schöpfen. Das alles gibt es schon bei Oliver Stone, einem der Heroen Hollywoods, zu sehen. Der eigentliche Grund für den Skandal, den Despentes Bücher auslösten, dürfte in dem Umgang mit Sexualität liegen.

Ähnlich wie Michel Houellebecq wirft Despentes konsequent alle Werte und Normen, die sich im Gefolge der sexuellen Revolution der 60iger Jahre gebildet haben, über Bord. Beide betonen die gesellschaftlichen Implikationen der Sexualität, die Verknüpfung mit Fragen der Macht, sie berauben die Sexualität ihres Schleiers der Natürlichkeit. Despentes Heldinnen wollen gevögelt werden. In einer Szene, in der zwei Frauen von einer Gruppe von Männern aufs brutalste vergewaltigt werden, schüttelt die eine der Frauen diese Erfahrung ab. Sie macht mit, weil sie nicht durch Widerstand die Sache noch schlimmer machen, ihren Tod riskieren will. Die andere Frau ist am Ende noch angeekelter von ihr als von den Vergewaltigern. Die Frau, die den Mythos von der Heiligkeit der Sexualität fallen lässt, ist schlimmer als der Vergewaltiger. Nimmt sie ihm so doch den ganzen Spass.

Das bedeutet nicht, daß es keinen "guten" Sex für Despentes Heldinnen gibt. Aber er ist die Ausnahme, und er hat nicht mehr Bedeutung als eine anständige Flasche Whiskey oder ein neuer Walkman.

Wenn dies der Skandal ist, und wir reden hier nicht über Le Pen Wähler oder ländliche Katholiken, wir reden über aufgeklärte Grosstadtbewohner, denen Bilder von Nackheit so selbstverständlich sind wie Kondomautomaten, wenn also dies der Skandal ist, dann wirft er ein grelles Licht auf eine Gesellschaft, in deren Kultur das Umnieten von Leuten etwas völlig Alltägliches ist, ein entmythologisierter Blick auf Sexualität aber Tabus verletzt.

John Boysen

virginie despentes


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