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u-lit Literatur Magazin



   

ICH MÖCHTE FOLGENDE WINZIGE BOTSCHAFT HINTERLASSEN: JEMAND HAT IN DEN 90er JAHREN DES 20. JAHRHUNDERTS DEUTLICH DIE ENTSTEHUNG EINES MONSTRÖSEN UND GLOBALEN MANGELS VERSPÜRT
Abt. II

   

“Die logische Folge des Individualismus ist Mord und Unglück.”

Michel Houellebecq

zeichnet sich schon in seinen Romanen durch die typisch französische Camouflage aus, radikale Philosophie zu behaupten, wo eigentlich dramatische Poesie ist. Beiden Genres widmet er sich auch separat: Sascha Preiß über
Die Welt als Supermarkt
und
Suche nach Glück

Außerdem:
Kristian Kißling schreibt über die Romane:
Ausweitung der Kampfzone
und
Elementarteilchen

Wieder Sascha Preiß schreibt über den Text- und Fotoband Lanzarote

Beide diskutieren Strategien und Geschichte der Autor-Inszenierung anhand des Phänomens Houellebecq


Informationen zu Michel Houellebecq

 
 

Die Schrift auf dem Grabstein.
Michel Houellebecqs Essays in “Die Welt als Supermarkt” und sein Gedichtband “Suche nach Glück”


Es gibt Autoren, deren Leben und Erfahrung ihr gesamtes Werk derart prägen, daß eine (Auto-)Biographie und philosophisch-theoretische Betrachtungen zum Verständnis unbedingt dazugehören. Und es gibt solche, bei denen das nicht der Fall ist; da ist ein Interesse an der Person von zweitrangiger Bedeutung. Und schließlich gibt es noch Autoren, von denen man besser nicht viel, wenig oder gar nichts außerhalb ihrer Werke erfährt.

Letzterer Gruppe ist Michel Houellebecq zuzurechnen. Über seine Romane “Ausweitung der Kampfzone” und “Elementarteilchen” ist viel geschrieben und gestritten worden, und so sehr die Meinungen über diese Bücher auseinandergehen, so wenig läßt sich ihnen eine künstlerische Einzigartigkeit absprechen. Da aber vor diesen Romanen in Frankreich bereits zwei Gedichtbände und einige Essays erschienen sind, dauerte es folgerichtig nicht sehr lange, bis diese auch auf dem deutschen Markt erhältlich waren. Erstaunlich ist die Tatsache, daß der Essayband “Die Welt als Supermarkt” schon im letzten Jahr, also noch vor den Gedichten erschien, und die jetzt nachgereichte “Suche nach Glück” den jüngsten von mittlerweile 3 Lyrikbänden des Franzosen darstellt. Diese Auswahl muß mit Bedacht erfolgt sein. Denn während die Essays auf der Stufe “interessante Zusatzinformation” bleiben, fallen die Gedichte schon unter das Prädikat “Geschmacksfrage” und sind wohl nur etwas für Houellebecq-Liebhaber – also kein Garant für einen Verkaufsschlager, was beide Bücher aber möglicherweise doch werden.

Die Essays Houellebecqs hinterlassen einen merkwürdig ambivalenten Eindruck: manche Aufsätze sind regelrecht dürftig, bleiben an der Oberfläche des behandelten Themas kleben und versuchen gar nicht erst, in die analytische Tiefe zu dringen. Ein besonders eklatantes Beispiel dafür ist der kurze Aufsatz über den Stummfilm mit dem Titel “Der verlorene Blick”. Da kommt zur Abwesenheit jeglicher filmgeschichtlicher Analyse auch noch ein moralisch-didaktischer Aspekt hinzu – und dann wird’s flugs peinlich. “Wir werden zu reiner Wahrnehmung, die Welt erscheint in ihrer Immanenz. Wir sind überaus glücklich, ein Glück, das seltsam ist. Verliebtsein kann diese Art Effekte ebenfalls erzeugen.” Ein leeres Betrachten von puren Erscheinungen wird hier zum Glücksversprechen. Daß der Stummfilm mit seiner harmonieseligen Wirkung auf den Zuschauer im Wortsinn verschwunden ist, ist daher offensichtlich beklagenswert.

Doch zum Glück ist ein solch derber Tiefgang nicht die Regel. Den wesentlich breiteren Raum nehmen seine gesellschaftlichen und poetologischen Betrachtungen ein. Den Höhepunkt des Buches bilden der Text “Die schöpferische Absurdität”, das folgende “Gespräch mit J.-Y. Jouannais und Chr. Duchâtelet” und der “Brief an L. Proguidis”. Hier verbindet Houellebecq Reflexionen über seine literarische Arbeit mit einer bitteren Analyse der Zeiten, in denen er leben muß. “Die logische Folge des Individualismus ist Mord und Unglück.”, konstatiert er sarkastisch und meint damit: “Die mit den Jahrhunderten fortgeschrittene Auflösung der Sozial- und Familienstrukturen, die zunehmende Tendenz von Individuen, sich als isolierte, dem Stoßgesetz unterliegende Teilchen anzusehen, all das bewirkt natürlich, daß sich auch nicht die geringfügigste politische Lösung in die Praxis umsetzten läßt. Es ist folglich legitim, daß man damit anfängt, die Quellen eines hohlen Optimismus zu beseitigen.” Daß Houellebecq aus so beschriebenen, extrem dramatisierten Zuständen die falschen, weil noch drastischeren Schlüsse zieht, wie im angegebenen Beispiel, macht diese scheinbar ausweglose Prosa reizvoll. Es liegt ein Schimmer vom “Untergang des Abendlandes” auf den Texten, den Houellebecq unbedingt verlangt – sowohl Schimmer, als auch Untergang. Dem Einhalt zu gebieten, sich dieser apokalyptischen Trauer beim Lesen nicht auszusetzen, fällt unter Umständen schwer, denn die angestrebte Tendenz ist eindeutig und scheint für Houellebecq unausweichlich zu sein. Die positivste Formulierung dessen ist noch der Schluß des Interviews: “Wir werden sterben, solange wir eine mechanistische und individualistische Weltanschauung beibehalten. Es scheint mir daher unvernünftig, noch länger im Leiden und Bösen zu verharren. Die Idee des Ich besetzt seit fünfhundert Jahren den Raum. Es ist Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen.”

Doch nicht diese extreme Perspektive (und ihr triviales Vokabular mit Gut und Böse) ist das wirklich Besondere an den Texten Houellebecqs (mit einbegriffen seine Romane), sondern seine Blickrichtung auf die Wissenschaften und deren fatale Wirkungen, insbesondere auf die der Naturwissenschaften, auf deren Einfluß auf das Denken und Philosophieren des “Durchschnittshirns”.

Die Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung einer als durchschnittlich angenommenen Figur erweist sich als Wahrnehmung von Vereinzelung und Zerfall von Gesellschaften, die – so Houellebecq – in Äquivalenz zur wissenschaftlichen Zergliederung von Körpern und Prozessen durch die Biochemie und Physik gesehen werden muß. Die Übertragung der Teilchenphysik in gesellschaftliche Lebenszusammenhänge und die damit einher gehende Behauptung dieser Teilchenphysik als Erklärungsmuster des Lebens beschreiben einen “Fatalismus des Bewußtseins”, eine “Niederlage des Denkens” gegenüber gesellschaftshistorischen Prozessen. Wo Zusammenhänge nicht mehr gegeben sind, hat das um Kontinuität bemühte Subjekt verloren. Genauer: ein sich selbst als vereinzelt begreifendes Wesen ist außerstande, sich im Verband mit anderen zu erkennen und ist somit – frei: eine Freiheit, die keinen Halt verspricht, da sie nur auf sich selbst gerichtet ist und dadurch sowohl Angst als auch Aggression freisetzt. “Warum können wir bloß nie / nie / geliebt werden?” schreibt Houellebecq in einem Gedicht und bezeichnet damit die Lebensunfähigkeit des Subjekts durch Vereinzelung und Individualität.

Die Roman-Figuren des Michel Houellebecq erfahren also in den Essays ihre theoretische Grundierung, ihr gesellschaftskritisches Potential wird offenbar und es wird ein übermäßig romantisierender Poesiebegriff in Abgrenzung zur Prophezeiung des Untergangs etabliert.. Daß damit dennoch übliche Gesellschafts- und apokalyptische Klischees bedient werden, kann nicht verhindert werden – und Houellebecq möchte das auch gar nicht. Doch fehlt hier eines: das befreiende Lachen.

Houellebecq ist einiges mehr als bloßer Spötter oder Kläger, auch nicht allein Zyniker: Was verblüfft ist seine Kälte, seine völlige Mitleidslosigkeit mit sich und seiner Umgebung. Jegliche Art von Sentimentalität ist ausgeblendet, wenn man von einer latenten Verlustklage absieht. Die bestimmt aber sein gesamtes Werk und kann auf ihre Weise nerven, ist allerdings nicht immer so absolut gemeint, wie es ein konservatives Verständnis nahelegen könnte. So apokalyptisch etwa die “Elementarteilchen” erscheinen oder auch die “Ansätze für wirre Zeiten”, die fehlende Befreiung durch das Lachen verfehlt nicht ihre Wirkung. Zwar ist “Elementarteilchen” ein Roman, der aus einer Zukunft die heutige Gegenwart beschreibt, aber aus dieser Ferne bezieht er rückblickend sein kritisches Potential: “Der westliche Leser, aufgerieben von der feigen Besessenheit des politically correct, geblendet von einer Flut von Pseudo-Informationen, die ihm die Illusion einer ständigen Veränderung des Verständnisses von Existenz vermitteln, vermag es nicht mehr, Leser zu sein; er vermag es nicht mehr, der bescheidenen Bitte eines vor ihm liegenden Buches nachzukommen: lediglich ein Mensch zu sein, der selbständig denkt und empfindet.” Wofür, kann man da fragen, also noch ein Buch schreiben? Oder ist das nicht eine Position, die das Buch erneut stärkt als Waffe gegen alles “Schlechte”, da sie wissentlich übertrieben ist?

Selbstverständlich ist letzteres der Fall. Und doch beschreibt es ein Faktum des Denkens, das als Topos in allen Sparten gesellschaftlichen Lebens anzutreffen ist: Es war einmal... da war alles besser... Es ist das Eingeständnis der Niederlage aufklärerischen Bemühens angesichts der davon unbeeindruckten Weltentwicklung. Doch anstelle hier den literarischen Hebel anzusetzen, resigniert Michel Houellebecq mit großem Aufwand und ebenso großen Erfolg. Er macht es sich in seinen Essays ungeheuer einfach, besonders an den Stellen, wo ein gut gepflegter Anti-Amerikanismus über eine dezidiertere Interpretation oder Analyse der Gegenwart hinwegtrösten und -täuschen soll: siehe “Reisebericht”. An diesem Punkt kippt jeder Essay in pure, vorbehaltlose Verklärung, um dem Denken zugunsten einer Gefühlswahrung eine letzte Ohrfeige zu verpassen: Und Houellebecq zieht sich auf die Insel der Romantik zurück, um von dort aus die Bewahrung der Menschheit in der Poesie zu verkünden. Auf die dümmliche Frage von Sabine Audrerie (im Gespräch mit ihr), ob die Poesie nicht dazu ausersehen sei, unmittelbare Emotionen hervorzurufen und ein Innenleben auszudrücken, antwortet Houellebecq mit großem Kopfnicken: “Sie ist vor allem eine geheimnisvollere Sicht der Welt. Die Poesie ruft verborgene, mit anderen Mitteln nicht auszudrückende Dinge wach.” Derartige poetische Naivität, die sich vorbehaltlos dem allgemein verbreiteten Mythos “Poesie = Gefühl = Wahrheit” aussetzt und sich durch den gesamten Essayband zieht, zeugt von einer gefährlichen Unreflektiertheit. Einerseits wird die Poesie auf diese Weise minimiert, indem ihr der Rang des Vor-Denkerischen, des Gefühlshaften, Ursuppigen, Wilden, Unförmigen, Zivilisationsfreien zugewiesen wird, ohne zuzulassen, daß Schriftlichkeit ein Produkt des Verstandes ist, insbesondere die Poesie: “Die Poesie scheint noch ernsthafter von der dummen Idee angesteckt, der zufolge die Literatur eine Arbeit mit Sprache sei; mit dem Ziel, eine Schreibweise hervorzubringen.”. Andererseits wird im Wahrheitspostulat alle Erkenntnis vor den Verstand und die Vernunft gesetzt, als quasigöttlichen Ursprungs und in mythischer Abstammung: das Denken ist erneut die Sünde des Menschen, derentwegen die Menschheit nun in den Abgrund rennt, das soll die so verstandene Poesie noch einmal bis in alle Ewigkeiten klar machen. Sie macht es klar, indem sie sich an die Vernunft richtet, aber bei ihr nur das Zustimmung und Gemeinschaft stiftende Gefühl aktivieren soll. Nichts anderes als das Argument des Anti-Intellektuellen und die Verteidigung der an der prophezeiten Apokalypse bewiesenen Skepsis gegenüber dem (aufklärerischen) Denken, wird hier, von einem Intellektuellen!, erneut dargelegt, mit beeindruckender Vehemenz.

An dieser Stelle sollte man das Buch schließen. Auch wenn Houellebecq vielleicht nicht ganz klar ist, was er hier tatsächlich sagt; und wenn er es wüßte, würde er eine solche Meinung entweder abstreiten oder zu relativieren suchen. Trotz allem bleiben seine poetologischen Statements mit Rückbezug auf die (verklärte) Epoche der deutschen Romantik äußerst fragwürdig und wirken zusammengeworfen, undurchdacht und letztlich willkürlich.

Doch noch steht sein Gedichtband aus, an dem nun seine lyrischen Positionen zu überprüfen wären. Ich will es aber kurz machen: Die Gedichte sind erschreckend banal, um nicht zu sagen schlecht bis sehr schlecht. Und obendrein noch schlampig übersetzt: Der französische Originaltitel heißt “La poursuite du bonheur” und bedeutet “Die Verfolgung (Jagd) des Glückes”, in den seltensten Fällen aber “Suche”. Solche Unsauberkeiten in der Übersetzung schleichen sich häufig ein und verwischen oftmals komplexere Bilder und Wortspiele. Doch zum Glück, par bonheur, ist das Buch zweisprachig erschienen, daß jeder seinen eigenen Houellebecq kreieren kann. Und dieser präsentiert hier ganz im Gegenteil zu seinen Ankündigungen exakt die gleichen Themen und Phänomene wie in der Prosa. Dazu noch in trivialen Reimstilen, Kreuzreim, Paarreim, selten einmal ein Sonett. Nichts von unklarer “Natürlichkeit”, gelangweilte Emotionalität in trockenen Bildern und ein schon obsessiver Rückbezug auf das Eigene. “Der lange Faden des Vergessens spult sich ab und webt / Unausweichlich. Schreie, Weinen und Wehklagen. / Ich weigere mich zu schlafen und spüre das leben entgleiten / Wie ein großes weißes Schiff, ruhig und unerreichbar.” (Die Übersetzungen können, par bonheur, die Reime nicht mitliefern.) Was in der Prosa noch prächtig funktioniert hat, die Kälte, das fehlende Mitleid, das wird auch lyrisch produziert, funktioniert aber eben nicht mehr. Rhythmus und Sprachpausen – auch die Reime im Original – geben den Texten eine Atmosphäre, die sie nicht besitzen. Die Mitleidslosigkeit wird außer Kraft gesetzt zugunsten einer fragwürdigen “poetischen Aura”; es ist eine Entschärfung der Texte, die so plötzlich unfreiwillig komisch wirken – oder, falls sie tatsächlich komisch sein sollen, dann machen sie das nicht klar. Diese Poesie ist krank, wenn man Houellebecqs sozio-psychologischen Begriff auf ihn selbst anwendet, eine Krankheit, die sie sich nicht eingesteht und poetische Gesundheit vermitteln will. Die Gedichte entlarven sich im naiven Umgang mit den zwangsweise auftretenden Gesetzen der Lyrik als lächerlich und ideenlos, plump und unbeholfen. Eben jene “Natürlichkeit” und “Gemütsstimmung”, die Houellebecq immer haben will – nur ist es einfach nicht der dem Ganzen prophezeite große, intensive, dauerhafte Aus- und Eindruck. Die Lyrik ist an den Stellen dümmlich, wo die Prosa unbestreitbar großartig ist. Was Michel Houellebecq damit will, steht auf der Rückseite des Bucheinschlags und ebenfalls im “Brief an L. Proguidis”: “Ich möchte folgende winzige Botschaft hinterlassen: ‚Jemand hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich die Entstehung eines monströsen und globalen Mangels verspürt; außerstande, das Phänomen klar zu umreißen, hat er uns jedoch – als Zeugnis seiner Inkompetenz – einige Gedichte hinterlassen.‘” Das darf man getrost wörtlich nehmen. Nur leider wird sich mit diesen Gedichten ein solcher Spruch nicht auf seinem Grabstein finden lassen. Gemessen an diesem Buch ist das Lebensziel verfehlt – und es herrscht tiefes Schweigen am Grab, keine poetische Erkenntnis.

Michel Houellebecq ist ein absurdes Phänomen. Er will Lyriker sein, ist aber Romancier. Und ist zudem frustriert, über allerhand. Besonders gerne auch über sich selber. Um das zu erfahren, sind die beiden Bücher gut. Aber für ein vorzeitiges Begräbnis reichen sie ganz sicher nicht, da muß er sich noch eine Weile ertragen.

Sascha Preiß
Warum können wir bloß nie, nie geliebt werden?
HOUELLEBECQ KOMPLETT:

Abt. I
Die Romane des MH: Wie ein Pathologe seziert er die Gesellschaft und notiert die Gründe ihres Sterbens
Abt. III
Dies jämmerliche Leben: MH und die Langeweile auf Lanzarote
Abt. IV
Die Inszenierung des MH: Warum der Autor tot sein sollte, aber stattdessen immer lebendiger wird

 



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Das Modell Beigbeder / Houellebecq
Zuletzt geändert am 07.12.2000 ©u-lit