rezension

u-lit Literatur Magazin  
 




Thomas Hettche Fall Arbogast

Thomas Hettche:
Der Fall Arbogast.


Roman.
DuMont, 2001.
350 S.

Körper Faction

Der Fall Arbogast – ob er tatsächlich stattgefunden hat, wer weiß. Im gleichnamigen Roman von Thomas Hettche wird er jedenfalls als “faction” präsentiert, als eine Kriminalgeschichte, die in der bundesdeutschen Realität wirklich passiert sein soll.

Hans Arbogast, den man heute wohl in die S/M-Szene einordnen würde, tötet 1955 die junge Marie Gurth. Absichtlich, wie vermutet wird. Er hat sie in seinem Wagen mitgenommen, sie vergewaltigt und getötet. Der Gerichtsmediziner Professor Maul weist anhand eines Photos nach, daß er sie mit einem Kälberstrick umbrachte. Hans Arbogast, der seine Unschuld beteuert, sitzt dafür 13 Jahre im Gefängnis. Bis sich Ansgard Klein seines Falls annimmt und eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreicht. Der Rest soll hier nicht erzählt werden, schließlich leben Kriminalromane auch durch ihre Spannung..

Thomas Hettches Thema ist – wie schon in “Nox” und “Ludwig muß sterben” – der Körper. Vorrangig der tote Körper. Arbogast erhält seine Strafe aufgrund eines Photos. “Gerichtsmedizin und Naturwissenschaft zählen heute zu den wirksamsten Waffen im Kampf gegen das Verbrechen.” läßt Hettche 1955 den Staatsanwalt Oesterle sagen. Wo nicht mehr – wie in der Inquisition - in die Köpfe der Personen geschaut werden kann, werden Objekte und äußere Spuren der Zugang zur Wahrheit. Das ist natürlich Quatsch, wie Hettche zeigt. Als objektives Beweismittel in einem Mordprozess wird die Naturwissenschaft zu einem Problem. Das Beweisphoto aufgrund dessen der Verdächtige verurteilt wurde, kann lügen. Es zeigt nur, was man in ihm sehen will. Und was man sehen will, hängt an den Mitteln und dem Zeitgeist.

Das zeigt sich in der erneuten Verhandlung des Falls 1969. Da gibt es bereits neuere Methoden, neuere Apparate. Die technische Entwicklung schreitet voran, der Mensch hinterher. Hettche zeigt: Der Mensch kann sich irren. Die Justiz ist nicht unfehlbar und: Eine Spur ist nichts wert, wenn sie nicht lesbar ist. Und wenn sie lesbar ist, dann steckt dahinter immer ein beschränkter – nämlich ein zeitgebundener Kopf, der die Spur auslegen muss. Was also 1955 als pervers angesehen wird, ist in den 60er Jahren ungewöhnlich und heute womöglich gewöhnlich.

Dennoch bewegt sich das System, wenn auch eher unfreiwillig. Mit den wiederaufgerollten lebenslangen Haftstrafen geht ein Umdenken in der Justiz einher. 1955 konnte Arbogast verurteilt werden, als Opfer einer großen Säuberung. Den an die Grausamkeiten des Krieges gewöhnten Soldaten musste ziviles Benehmen erst wieder beigebracht werden. Was im Krieg alltäglich war, wird plötzlich zur Straftat. Arbogast wird zum exemplarischen Opfer dieser Umerziehung.

Hettches Interesse für die Pathologie ist schon pathologisch. Wie der Körper in seinen Einzelteilen aussieht - Hettche kennt das gesamte Vokabular. Die hinzugezogene Pathologin Katja Lavans träumt davon, die von ihr sezierten Leichen einmal lebendig zu sehen, nicht erst, wenn sie tot sind. Sie ist eine Pfadfinderin des Körpers, fotografiert ihn und versucht, anhand der Spuren seine Geschichte zu rekonstruieren. Das geht soweit, daß sich sie in die Situation des Opfers Marie Gurth begibt, um zu spüren, wie es gewesen sein muss, als sie noch lebte. Nicht besonders gut, wie sie erfahren wird.

Aber Hettche hat noch andere Themen parat. Zum Beispiel geht es um den Körper und das Gefängnis. Zum einen darf Foucault mit seinen Theorien über die Gesellschaft und ihre Verbannung der falschen Diskurse in Irrenhäuser und Gefängnisse nicht fehlen. Der panoptische Zentralturm mit seiner freien Sicht der Wächter auf die Bewachten steht fürs Foucaults Theorie. Dann wird auch das Gefängnis selbst thematisiert. Für Arbogast wird die Zelle in den Jahren seiner Gefangenschaft zur zweiten Haut. Daraus läßt sich natürlich umgekehrt der Schluß ziehen, dass der Körper immer schon das erste Gefängnis ist, aus dem wir nicht heraus können. Man kann noch mehr Theorien und Diskurse entdecken – für Germanisten ist der Roman sicherlich eine Fundgrube. Aber da liegt auch der Haken. Hettche schrieb schon immer theorielastig, seine Geschichten wurden durch die zahlreichen Reflexionen ständig ausgehebelt. Arbogast ist insofern ein Fortschritt, weil es ihm hier gelingt, seine Theorien – von denen einige nicht besonders neu sind – mehr zu erzählen und weniger zu dozieren.

Stilistisch ist an der Geschichte nichts auszusetzen. Die Sprache von Forschungsberichten, Zeitungsartikeln und Gerichtsgutachten transportiert zeitgenössisches Kolorit, die kleinen Details sind gut beobachtet, wenn auch manchmal zu ausschweifend geschildert. Hettche liefert dennoch Eindrücke, die sich nicht in heutigen Klischees über die 50er Jahre verlieren. Durch anregende Beschreibungen von Interieurs und atmosphärische Bilder schafft er es, dem Leser eine Ahnung davon zu geben, wie die 50er und 60er Jahre gewesen sein könnten. Kein revolutionärer Roman also, aber gute Unterhaltung auf hohem Niveau.

Kristian Kißling

"www.hettche.de"
Leseprobe aus "Der Fall Arbogast"

Informatonen zu
Thomas Hettche



| Literatur Magazin Start! | Literatur Magazin Themen! | Literatur Magazin Rezensionen! | Literatur Magazin Neue Bücher! |
| Literatur Magazin Literatur Forum! | Literatur Magazin Download! | Literatur Magazin Kontakt! | Literatur Magazin Literatur Links |
Erstellt am 06.10.2001 ©u-lit/