David Foster Wallace:
Kleines Mädchen mit komischen Haaren.


Stories. Deutsch von Marcus Ingendaay. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Denis Scheck.
Kiepenheuer & Witsch, 2001.
254 S.

Von der Kraft und der Herrlichkeit der Literatur

Es mag ja in diesen Monaten so aussehen, als sei u-lit von Kiepenheuer & Witsch übernommen worden: so viele Bücher dieses Verlages werden hier besprochen. Aber tatsächlich liegt das daran, daß die Kölner ganz einfach den besten, wagemutigsten und am konsequentesten auf junge Autoren setzenden deutschen Verlag machen. Mit Stuckrad-Barre, Lebert und der "jetzt" Reihe hat KiWi die junge deutsche Szene gut im Griff.

Bei den Engländern sind Nick Hornby und Irvine Welsh Kiepenheuer Autoren. Jetzt scheint es so, als hätten die Kiepenheuer Leute auch die wichtigsten unter den jungen Amerikanern unter Vertrag. Ein erster Hinweis ist der von Nick Hornby herausgegebene Sammelband "Speaking with the Angel", in dem unter anderen Dave Eggers mit einer Geschichte vertreten ist. Eggers ist in den USA ein neuer Star, einer, der Brett Easton Ellis, Douglas Coupland und Michael Chabon aus der Avantgarde in den Mainstream katapultiert hat.

Schon einige Jahre älter und mit mehreren Veröffentlichungen ist David Foster Wallace. Aber wie Eggers ist Wallace an amerikanischen Unis, in der Internet Literatur Szene ein Kultautor. Die häufigsten Referenzen sind Thomas Pynchon und Don DeLillo. Diese Vergleiche, und der damit verbundene Ruhm gründen sich hauptsächlich auf Wallace 1000 Seiten Werk "The Infinite Jest". Dieses komplexe Roman-Monster harrt noch der Übersetzung ins Deutsche, aber - um was wollen wir wetten, daß Kiepenheuer sich die Rechte schon gesichert hat?

"Girl With Curious Hair", so der Original Titel der vorliegenden Sammlung von Geschichten, ist bereits 1990 in den USA erschienen. Sie zeigt David Foster Wallace als jungen Autor, der sich noch nicht festgelegt hat, der noch auf der Suche ist. Dementsprechend sind die Stories sehr verschieden, was den Tonfall, aber auch die Sujets angeht.

Dabei erscheint die Titel gebende Geschichte als die schwächste: Ein junger, smarter Wirtschaftsanwalt zieht mit Punks durch das Nachtleben, nimmt jede Menge Drogen und macht seinem Nom de guerre "Sick Puppy" alle Ehre. Wallace befindet sich hier auf Brett Easton Ellis´ Terrain, wenngleich seine Version des amerikanischen Monsters etwas traditioneller daher kommt. In seiner Gespreiztheit erinnert der Held eher an "Clockwork Orange" denn an "American Psycho". Dennoch: wer weiss, wie diese Geschichte gewirkt hätte, hätte man sie bereits 1990 zu lesen bekommen!
Aber der Rest der Stories, der hat es wirklich in sich. Ohne jede Übertreibung kann man sagen, man hat es hier mit dem Aufregendsten zu tun, was die englischsprachige Literatur in letzter Zeit zu bieten hatte.

Gleich die erste Geschichte, "Tiere sehen dich an" ist grossartig: klassische Short-Story Kunst einerseits, postmoderne Literatur völlig eigener Prägung andererseits. Das Thema ist die Liebe zwischen einer langjährigen Quizshowkönigin und der Tochter der Regisseurin dieser Show, "Jeopardy", eine in den USA ungeheuer populäre Sendung. Diese junge Frau, die jahrelang ungeschlagen bleibt und der Sendung zu Rekordquoten verhilft, verfügt deswegen über einen so ungeheuren Fundus an lexikalischem Wissen, weil sie als Kind von ihrer Mutter komplett vernachlässigt und sogar ausgesetzt worden ist. Ihre einzigen Begleiter waren ein autistischer Bruder, um den sie sich kümmern muss, und ein vielbändige Enzyklopädie. Diese Geschichte, die eigentlich viel sensationeller ist als die Tatsache der scheinbaren Unbesiegbarkeit in einer Show, wird nie direkt erzählt, sie schimmert durch in den Dialogen zwischen den beiden Frauen, in den Gesprächen der Crew im Studio. Die Faszination, die von der Welt des TV ausgeht, wird in keinem Moment ausser Acht gelassen, ihre Realität keineswegs verleugnet. Statt dessen sieht die Story durch die Mattscheibe wie durch ein Brennglas.

Was Wallace hier unternimmt, ist nichts weniger, als eine Rückeroberung der Wirklichkeit. Es gibt keine Trennung zwischen einer echten Welt und einer künstlichen des Fernsehens; beide sind Teil der Realität. Das TV steht nicht ausserhalb der Realität, es wird ihm die Deutungsmacht, die Macht, Realität zu erzeugen, entzogen.

Dasselbe Grundmuster ist auch in zwei weiteren Geschichten in diesem Band am Werke, nämlich in "Lyndon", einer Geschichte um Lyndon B. Johnson, und in "Mein Auftritt", wo es um einen Auftritt in einer Late Night Show, der David Letterman Show geht.
Beide Geschichten erforschen die Probleme, die durch die spezifische Form der Wirklichkeitserzeugung durch Massenmedien entstehen, indem sie die Menschen, die das Material für diese Realitätsfabrikation bereitstellen, in den Mittelpunkt rückt.

In "Lyndon" erzählt Wallace die Geschichte eines Presseoffiziers des amerikanischen Präsidenten, dessen Name unlösbar mit dem Vietnam Krieg verbunden ist. Nicht die tatsache, daß diese fiktive Figur schwul ist, daß dessen Geliebter ein Opfer der damals völlig unbekannten Krankheit AIDS wird, machen diese Geschichte aus. Zwar werden auch hier von den Medien gepflegte, griffige Klischees demontiert. Das eigentliche Thema aber ist der Vietnam-Krieg und die Hippie Bewegung und die Konzepte von Liebe und Verantwortlichkeit, die sich in diesem Konflikt artikulieren. Ein großes Thema für einen jungen Autoren und keines, das nahe liegt.

Das allerdings zeichnet David Foster Wallace sowieso aus: Dieser Mann geht auf´s Ganze. Keine Kompromisse, keine Furcht. Als Vorbilder taugen nur die ganz Großen der modernen Literatur, und selbst die sind nur Wegmarken, keine Denkmale. Wallace ist trotz seiner Jugend, zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Stories war er noch keine dreissig Jahre alt, ein sehr belesener Autor, der ausserdem ein Studium der Philosophie absolviert hat. Zweifellos eignen sich seine Texte hervorragend zur literaturwissenschaftlichen Analyse.

Aber gerade eine Geschichte wie "John Billy", die vor philosophischen Reflexionen nur so strotzt, die, wie Denis Scheck in seinem hervorragenden Nachwort schreibt, eine Neuschreibung der Versuchung Jesu durch den Teufel darstellt, gerade diese Geschichte ist derartig faszinierend erzählt, daß es dem Leser geht wie den Figuren in der Geschichte: Am Ende hängt man an der Decke, levitierend, ausserhalb seiner selbst, getragen von der Kraft und der Herrlichkeit eines Kunstwerkes erster Güte.

Ein Wort noch zu der Übersetzung: Marcus Ingendaay hatte hier sicherlich einen äusserst schwierigen Job zu erledigen. Wallace ist ein Autor, der mit der Sprache spielt, der die verschiedensten Tonfälle beherrscht, der die Grenzen der sprachlichen Konventionen sprengt. Insofern musste Ingendaay ähnlich kreativ arbeiten wie ein Übersetzer von Lyrik. Das ist ihm insgesamt gut gelungen. Wer allerdings in den vollen Genuss des Wallace´schen Genies kommen will, der sollte das Original lesen. Lesen aber sollte man diesen Autor allemal. Nicht nur, weil David Foster Wallace der wohl wichtigste neue amerikanische Autor ist, sondern weil dies eines der Bücher ist, die einem wieder klarmachen, warum man liest.

Ulrich Klammt
 


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Erstellt am 19.06.2001 ©u-lit/