Zu viel Respekt, zu wenig Mittel


Rich Cohen:
Nachtmarsch. Eine wahre Geschichte von Liebe und Vergeltung.

Fischer, 2000.
350 S.
Aus dem Amerikanischen von Irmengard Gabler

Welches sind die Maßstäbe, an denen sich die Qualität eines Tatsachen-Romans über jüdischen Widerstand inmitten des Holocaust bewerten läßt?
Rich Cohen, Jahrgang 1968, erzählt in seinem Buch die Geschichte von Abba, Ruzka und Vitka, alle drei Helden des jüdischen Partisanenkrieges gegen die Nazis und alle drei Figuren aus israelischen Geschichtsbüchern. Ruzka ist eine entfernte Verwandte Cohens. Der damals 11 Jährige lernte die mittlerweile 60 Jährige Ruzka bei einer Reise seiner Familie nach Israel kennen. In den folgenden Jahren trifft Cohen sie, ebenso wie Abba und Vitka, noch öfter und läßt sich ihre Geschichte erzählen. Nach weiteren Gesprächen mit anderen Partisanen, mit Angehörigen und Zeitzeugen, schreibt Rich Cohen die Geschichte auf.

Es scheint eine zweifache Verpflichtung zu sein, die ihm dieses Schreiben auferlegt hat, und die in jeder Zeile aus dem Buch spricht: Da ist die Verpflichtung, diese Geschichte des Kampfes, des Überlebens für die Nachwelt zu überliefern. Und da ist die Verpflichtung gegenüber seiner Familie, gegenüber den Menschen, die er als Helden kennen gelernt hat. Schwere Bürden für einen 30 jährigen Autor aus dem amerikanisch-jüdischen Mittelstand.

Andererseits ist Cohen ein Profi. In Deutschland erschien von ihm bereits "Murder Inc", eine populäre Geschichte des organisierten jüdischen Verbrechens in den USA. Und Cohen schreibt für große Zeitungen und arbeitet als Drehbuch-Autor. So wird ihm durchaus klar gewesen sein, mit was für einem Stoff er es hier zu tun hat: Das seit Spielberg verfilmbare Drama des Holocaust, der Ausbruch aus dem Wilnaer Ghetto, der todesmutige Partisanenkrieg in den litauischen Wäldern, geheime Rache-Kommandos nach Ende des Krieges, und schließlich die Gründung Israels mit dem Sieg gegen die arabischen Armeen. Dazu noch eine zumindest angedeutete Menage a trois zwischen den drei jugendlichen, zu allem entschlossenen Zionisten. Das ist der Stoff, aus dem Bestseller gemacht werden können. Zumindest in seinem Buch hat Cohen dieser Versuchung widerstanden.

Was nicht bedeutet, daß nicht ein entsprechendes Drehbuch in Cohens Text schlummert. Seine Arbeitsweise jedenfalls kommt dem entgegen. Cohen erzählt in Szenen, die meist kurz und prägnant sind, und selten vergißt er kurze Regieanweisungen einzufügen, die im Buch oft völlig deplaziert, fast lächerlich wirken, wie die flackernden Schatten von Kerzen, einen bleichen Mondenschein, den warmen Wind, der durch Kornfelder streicht. Das wird wohlgemerkt nicht etwa beschrieben, fühlbar gemacht, sondern einfach und unvermittelt erwähnt. Auch sonst ist die Sprache, die Cohen einsetzt, von großer Schlichtheit. Eine Szene, in der Abba seine vor der Deportation stehende Mutter im Ghetto nach Monaten wiedersieht, geht so: "Abba besuchte seine Mutter. Als kleiner Junge hatte er ein inniges Verhältnis zu ihr gehabt. Nun war er älter und trug für mehr Menschen als seine Familie die Verantwortung. Sie versuchte, vor ihm ihre Rührung zu verbergen, und fragte ihn, ob er auch genug zu essen habe. Als er wieder fortging, sagte sie: "Was soll nur aus uns werden?"". Ende und nächste Szene.

Diese Beschreibung ist in ihrer Hilflosigkeit typisch für das ganze Buch und sie illustriert Cohens Kernproblem. Er schafft es nicht, eine Perspektive zu finden, von der er seine Geschichte erzählt. Dürre Aufzählungen von Fakten stehen unvermittelt neben romanhaften Ausschmückungen, und über diese beiden Erzähl-Haltungen stülpt sich stets der Tonfall eines weihevollen Sonntagspredigers.

Man kommt nicht umhin zu konstatieren, daß Rich Cohen mit seinem Material überfordert ist. Ganz offensichtlich hat er viel gelesen. Und die Informationen, die er aus erster Hand bekam, sind wirklich spannend. Völlig verständlich auch Cohens Impetus, die Geschichte des jüdischen Widerstandes, der jüdischen Rache erzählen zu wollen. Zu dominant ist die Sichtweise auf Juden nur als Opfer. Aber es ist überdeutlich, daß diese Geschichte die Vorstellungskraft ihres Erzählers übersteigt. Schon die Schauplätze, Litauen und überhaupt Europa, erscheinen in seinem Buch wie Kulissen aus Pappmachee. Die Gefühle und Empfindungen seiner Figuren zu beschreiben, ist natürlich eine Aufgabe, der sicher nur wenige gewachsen wären. Cohen ist es nicht: "Abba sah sein Kind zwei Wochen später, während eines Heimaturlaubs. Als er es in den Arm nahm, zerbrach etwas in ihm. Sie benannten das Kind nach Abbas Bruder Michael, der von polnischen Partisanen im Naroczwald getötet worden war." Und dieser Absatz wird nicht etwa erläutert. Das bleibt so stehen. Und sagt nichts. Nur daß der Erzähler so überwältigt von seiner Geschichte ist, daß er sich nicht mehr mitteilen kann.

Damit läßt sich die Frage nach den Maßstäben, die hier anzulegen sind, so beantworten, daß der Erzähler eines Tatsachen-Romans über jüdisches Überleben im Holocaust eine Perspektive finden muß, diese Geschichte zu erzählen, die emotionale Entschiedenheit, diese Perspektive durchzuhalten und die sprachlichen Mittel, von dieser Perspektive aus zu erzählen. In diesem Sinne ist Rich Cohen gescheitert. Und das ist sehr schade, denn sein Stoff ist es wert, erzählt zu werden. Und das nicht nur, weil es ein überaus spannender Stoff ist, sondern weil er geeignet ist, die fast zwanghafte Verbindung von Judentum und Opferrolle aufzubrechen. Und weil er das demonstriert, was eigentlich selbstverständlich ist, daß nämlich die europäischen Juden, die sich oft genug in erster Linie als Polen, Deutsche, Litauer, Kommunisten oder Christen verstanden, ganz normale Menschen waren, genauso furchtsam, so naiv, aber auch so mutig und sogar grausam, wenn es sein mußte.

 


Zuletzt geändert am 05.11.2000 ©u-lit