Eine Fussnote zur Rezension von T. C. Boyle, America

...Moral, so lautet die Botschaft, ist keine Folge von Wohlstand, sie ist der Wohlstand selbst: Moral ist nach meiner Auffassung die Möglichkeit, nach selbst bestimmten (politisch korrekten) Grundsätzen handeln zu können, egal wie diese im einzelnen aussehen. Mossbachers haben diese Wahlmöglichkeit, América und Cándido haben sie nicht. Moral in dem Sinne, wie ich den Begriff hier verwende, ist nur möglich, wenn die absoluten Grundbedürfnisse befriedigt sind. Und Zivilisation ist der Zustand, moralisch handeln zu können, bzw. der Standpunkt, von dem aus „richtiges“ Handeln definiert wird. Zivilisation, glaube ich, ist wiederum relativ mit Wohlstand verknüpft. In dem Buch gehören die Dinge, über die die Mossbachers verfügen, für sie zur Grundausstattung des Menschen und werden auch nicht in Frage gestellt. Aus Cándidos und Américas Sicht leben die Mossbachers in Wohlstand. Ich habe also so gedacht: Wenn der Wohlstand – über den sich die Mossbachers definieren – bedroht wird, steht für sie die Existenz (Zivilisation) selbst auf dem Spiel. Ihre Existenz unterscheidet sich von der mexikanischen Existenz eben durch diesen Wohlstand. Auch ihr Verhalten gegenüber den Mexikanern - das ja eher eine Duldung ist – hängt von ihrem Wohlstand ab. Es gibt dann in dem Buch auch so ein paar Szenen, als der Canyon brennt, wo sich die Vorstädter wie Nazis benehmen, wo plötzlich nach einem Sündenbock gefahndet wird, den dann die Mexikaner abgeben. Die Toleranz, die bisher zu den Grundsätzen Delanys gehörte, verschwindet, löst sich auf. Er will die Mexikaner sogar umbringen, obwohl er absolut keinen Grund dazu hat. Und diese Entwicklung – wir respektieren Euch, solange wir nicht das Gefühl haben, dass ihr auch Menschen mit Bedürfnissen seid – würde ich auf den Wohlstand beziehen, der eben den Zustand der Zivilisation gewährleistet und mit ihm die Moral.
Vielleicht ist das alles nicht zu Ende gedacht und angreifbar. Wer eine bessere Idee hat oder klarere Begriffe weiß,
maile mir, ich freue mich. Kristian Kißling

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Zuletzt geändert am 14.07.2000 ©Kissling/u-lit