Leon de Winter: Leo Kaplan.
Diogenes, 2001. 542 S.
Der beste Lore Roman, der nie geschrieben wurde
Noch bis ganz kurz vor dem Ende dachte ich, dies sei der beste Lore Roman, der nie geschrieben wurde. Zwei junge Menschen, Ellen und Leo, erleben die erste große Liebe. Gegen den Widerstand der Eltern, ja der Gesellschaft, über die Grenzen der Konfessionen und der Traditionen schmieden sie ein Bündnis, das für die Ewigkeit gemacht zu sein scheint. Dann passiert es; sie wird schwanger. Sie will das Kind des Glücks, er will es auch, doch er hat auch gesellschaftliche Ambition. Sie fühlt, sie kann sich seiner bedingungslosen Liebe nicht mehr sicher sein, es kommt zu einem dramatischen Mißverständnis. Sie sagt ihm, sie habe das Kind abtreiben lassen, er verläßt sie.
Erst etwa 20 Jahre später treffen die beiden in Rom erneut aufeinander. Sie ist verheiratet mit einem Diplomaten, er ist erfolgreicher Schriftsteller. Beide erkennen, daß ihre Liebe niemals gestorben ist. Und Ellen hat einen etwa 20jährigen Sohn....
Aber dann kann man auch denken, man habe es mit einem illegitimen Sohn des großen Philip Roth zu tun. Leon de Winter zeigt sich in „Leo Kaplan“, das im niederländischen Original schon 1986 erschien, als souveräner, suggestiver Erzähler. Das Drama und der Kitsch, die in dieser Geschichte liegen, kostet er voll aus, ohne daß man je das Gefühl hätte, hier würde mit billigen Versatzstücken gearbeitet. Nie, auch nicht in den romantischsten Liebesszenen, verliert er die Bodenhaftung. Noch die innigste Umarmung, die erschütterndste Trennung werden durch das Alltägliche, das Körperliche, den Verfall kontrastiert
Sex ist eines der wesentlichen Antriebskräfte dieses Roman und seiner Figuren. Die Liebe, die hier in allen ihren Facetten vorgeführt wird, von ihrer romantischsten bis zur käuflichen Form, bleibt stets unauflöslich mit Sex verknüpft. Dieses in seiner Lächerlichkeit, seiner Schönheit und seiner schlichten Wahrheit auszusprechen, gelingt Leon de Winter so selbstverständlich, daß er automatisch in der Tradition moderner jüdisch stämmiger Autoren steht; auch der unvermeidliche Woody Allen ist da nicht fern.
Und dann ist „Leo Kaplan“ auch ein Künstlerroman im beinahe klassischem Sinne. Der Schriftsteller Leo Kaplan nämlich ist in einer schweren Schaffenskrise, die sich verbindet mit seiner Lebenskrise. Nach einigen erfolgreichen Büchern leidet Kaplan an einer Schreibblockade, er fühlt sich ausgebrannt, korrumpiert. Seine Heilung, so wird im Laufe des Romans klar, kann nur durch eine Selbstbesinnung erfolgen, durch eine Rückbesinnung auf seine Wurzeln. Die Verquickung künstlerischer Praxis mit persönlicher Biographie wirkt einerseits zunächst genau so naiv, wie die Liebesgeschichte zwischen Leo und Ellen. Unzählige Schinken, Bestseller oft genug, haben von dieser Mischung gelebt, allen voran der große Meister dieses Genres, Irving Stone.
Aber erneut erweist sich Leon de Winter als sehr viel raffinierter -und klüger - , als man zunächst meinen möchte. Seine Hauptfigur Leo Kaplan ist in vieler Hinsicht ein Alter Ego seines Autors. Das geht soweit, daß Kaplan seinen Durchbruch mit „Hoffmanns Hunger“ erzielt hat. Intime Kenner des Werkes De Winters mögen ausloten, wie weit genau die Parallelen zwischen den beiden gehen. Es fehlt nicht einmal eine Auseinandersetzung, um nicht von Schmähung zu reden, mit de Winters holländischem Landsmann Harry Fulisch, pardon: Mulisch. Klar ist, daß dieser Roman ein Spiegelkabinett des Autors de Winter ist, in dem dieser sich in allen möglichen Brechungen und Perspektiven betrachtet. Die gleichwohl schlichte Erkenntnis dabei - und hier schließt sich der Kreis zur scheinbaren Naivität des Künstlerromans - ist, daß beide letztlich nur über sich selbst schreiben können.
Ganz beiläufig, und ohne theoretische Reflexion, demonstriert dieser Text aber auch sein Gestaltungsprinzip. Immer wieder führt Leo Kaplan vor, wie de Winter sein Buch komponiert hat, entlang von Bildern nämlich, um die, Leitmotiven ähnlich, der Stoff gruppiert ist. Deren wichtigstes ist das Bild eines Trapezaktes. Auf dieser beobachteten Szene in einem provinziellen Zirkus bauen Autor und Hauptfigur ihre ganze Auseinandersetzung mit dem Thema Treue und Ehebruch.
Dies alles bedeutet keineswegs, daß de Winter eine grüblerische Bauchnabelschau betrieben hätte. Im Gegenteil, das Buch quillt über von Geschichten. Organisiert ist die Geschichte von Schauplätzen der Handlung, die aus dem niederländischen s-Hertogenbosch, de Geburtsstadt de Winters, über Amsterdam nach Rom führt, zwischendurch in Ägypten, Berlin, Mailand und London Station macht. Und überall gibt es Geschichten zu erzählen, kleine Szenen, die eigentlich eher die Themen des Romans illustrieren, als daß sie direkt die Handlung transportieren; Instrumente im Orchester des großen Verführers Leon de Winter. Burckhard Christians
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