Ein Seefahrer Roman ohne Seefahrt Francisco Goldman: Estebans Traum
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“Als ich fünf war und mich wegen meiner Tuberkulose, die ich mir im Vorjahr in Guatemala geholt hatte, noch immer in Quarantäne befand, schickte uns Abuelita, die Mutter meiner Mutter, eine Waise namens Flor de Mayo Puac, die bei uns als Dienstmädchen arbeiten sollte.“
Der hier spricht, heißt Roger Graetz und trägt stark autobiographische Züge seines Autors Francisco Goldman. Rogers Mutter kommt aus einer wohlhabenden guatemaltekischen Familie, während sein Vater einer armen, aus Russland eingewanderten, jüdischen Familie entstammt. Die Sommerferien verbringt Roger in Guatemala, den Rest des Jahres in einem Bostoner Vorort; wirklich zu Hause fühlt er sich in keiner der beiden Welten.
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...Der hier spricht, heißt Roger Graetz und trägt stark autobiographische Züge seines Autors...
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Es ist ein übliches Verfahren, in Erstlingswerken die eigene Biographie zu verarbeiten. Bei Franisco Goldman allerding wird wesentlich mehr daraus, nämlich eine intensive Beschäftigung mit Guatemala. Dazu spannt der Autor ein Netz aus Personen und Beziehungen zwischen den Polen USA und Guatemala. Im Mittelpunkt dieses Netzes steht eine Abwesende, weil Tote.
Die Waise Flor de Mayo, Abkömmling der in Armut lebenden indianischen Bevölkerungsmehrheit Guatemalas wird mit dreizehn als Dienstmädchen zu den Graetz nach Boston geschickt. Schnell wird sie zur geliebten älteren Schwester Rogers und zur Ersatztochter seiner Eltern. Ehrgeizig und begabt macht sie einen glänzenden College Abschluss, einer Karriere in den USA scheint nichts im Weg zu stehen.
Doch sie geht zurück in das vom Bürgerkrieg zerissene Guatemala und übernimmt die Leitung eines Waisenhauses. Einige Jahre später wird sie ermordet aufgefunden. Der Täter wird nie gefasst, doch die unter Zensur stehende Regenbogen-Presse bringt sie mit illegalem Babyhandel in Verbindung. Zusammen mit Moya, einem ehemaligen Liebhaber Flors und Freund aus Kindertagen, macht Roger sich auf die Suche nach der Wahrheit über Flor.
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...macht Roger sich auf die Suche nach der Wahrheit über Flor...
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„Guate non existe“, Guatemala existiert nicht: Dieses melancholische Verdikt des Dissidenten Moya scheint wie ein Motto über dem ganzen Buch zu stehen und die tote Flor de Mayo repräsentiert diese rätselhafte Scheinexistenz eindrucksvoll. Ihre verschlungenen Wege zwischen indianischer Armut, amerikanischem College und spanischstämmiger guatemaltekischer Oberschicht lassen sich letztlich eben so wenig klären wie ihr Tod.
Es ist eine schwere Last, die Goldman schultert, und er trägt sie souverän. Die Mühe aber merkt man dem Buch an: Wir haben es hier mit einem ernsthaften Autor zu tun, der zwar Sinn für Geschichten hat und diese auch zu erzählen weiss, der aber immer sein Thema im Auge behält und dieses mit aller Gründlichleit erforscht.
In seiner Struktur folgt das Buch einer permanenten Erinnerungsarbeit. Ein Handvoll Szenen, zwischen denen der Text ständig hin und her springt, werden immer neu beleuchtet, bis sich ein überaus facettenreiches Gemälde ergibt. Und obwohl Goldmans Figuren so hervorragend sämtliche Aspekte der guatemaltekischen Gesellschaft illustrieren, hat man jederzeit das Gefühl, eine wahre Geschichte zu hören.
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...Wir haben es hier mit einem ernsthaften Autor zu tun...
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November/´99 |
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