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Gesellschafts-Kritik und Literatur unter den Gesetzen des Konsums:

Böll ist tot, es lebe Beigbeder?




In den 70ger Jahren, als das letzte Mal Sozialdemokraten herrschten, gab es das schöne Schlagwort von der repressiven Toleranz. Gebraucht wurde es gerne von linken Intellektuellen, die sich gegen eine schulterklopfende Vereinnahmung durch "das System" zur Wehr setzen wollten. Kritik an den bestehenden Verhältnissen forderte den Staat - dieser nämlich war damals der Feind - nicht mehr heraus, sondern wurde absorbiert. Der Sozialdemokratismus erschien als Maschine, die mit Ablehnung gefüttert wurde und Zustimmung ausspuckte. Das galt natürlich nur für verbale Kritik, nicht für gewaltsame, und, wie Berufsverbote und Stammheim zeigen, auch nur in Maßen.

Seitdem hat sich vieles geändert. Der Feind ist nicht mehr der Staat, sondern (wieder) das Kapital und junge Intellektuelle sind nicht mehr dagegen, sie haben Langeweile.

 
repressive Toleranz? Das war einmal...

Das Kernproblem aber ist geblieben: die Unmöglichkeit, gleichzeitig drinnen zu sein, und trotzdem draußen zu bleiben. Seitdem die Sex Pistols ihre Karriere damit starteten, daß sie von Plattenfirmen und Radiosendern gebannt wurden, ist klar, daß "das System" spielend in der Lage ist, mit kulturellen Herausforderungen klar zu kommen. Die einzige Gruppe, die es seitdem einigermaßen geschafft hat, der gesellschaftlichen Absorption auf Dauer zu widerstehen, sind die Neonazis.

Auf kulturellem Gebiet ist es heutzutage gefahrlos möglich, radikale Positionen einzunehmen . Es gibt zwei denkbare Ausgänge: die Verbannung in Nischen, die so klein sind, daß die Kritik unsichtbar wird, oder: ein rauschender Erfolg. Einspeisung in die Medien Maschinerie, Talkshows, Interviews, Auftritte im TV, Angebote für Romane, Artikel, Kultursendungen, Drehbücher, T-Shirts. Harald Schmidt.

 
Konsum ist das alles beherrschende Gesetz. Entweder eine kulturelle Äußerung ist konsumierbar, oder sie ist es nicht
 

Moderne Autoren wissen das. Sie sind geprägt von den 80ger und 90ger Jahren, die Diktatur des globalen Kapitalismus ist für sie die einzige wirklich bekannte Realität. Das kulturelle Feld wird zunehmend der Sphäre des traditionellen Bürgertums entrissen und den Gesetzen des Konsums unterworfen. Anders gesagt: War die Kultur bisher zu einem Teil Unterhaltung, zum anderen Teil Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, so wird sie mehr und mehr zu einer Subkategorie des allmächtigen Entertainment.

Der Prototyp des modernen radikalen Autors ist zweifelsohne Brett Easton Ellis. Seine Bücher reflektierten von Anfang an die Unmöglichkeit einer Rebellion, die Ohnmächtigkeit gegenüber der Warenförmigkeit der Welt, die Angst, die Depression und die Geilheit, die aus dieser Ohnmächtigkeit erwachsen.

Es hat gedauert, bis die Kollegen in Euroland nachgezogen haben. Einer der ersten war Christoph Kracht, der aber auch alleine blieb. Der Rest der jungen deutschen Autorengarde fand den Zynismus von Ellis´ Figuren cool und landete bei affirmativem Harald Schmidt Gehabe. Oder sie spürten die Klage um die verlorene Unschuld bei Ellis und machten daraus eine Koketterie mit der Haltung des verdorbenen Kindes.

Brett Easton Ellis

Autoren Namen sind zu Trademarks geworden
 

In den letzten Jahren allerdings hat sich Frankreich eine literarische Opposition gebildet, die den amerikanischen Vorbildern an Radikalität in nichts nachsteht.

Natürlich ist deren bekanntester Vertreter Michel Houellebecq. In seiner kruden Mischung aus Kulturpessimismus und naiver Romantik geht er gleichzeitig über Ellis hinaus und fällt einige Stufen zurück. Das Problem liegt nicht nur in den Ellis gegenüber beschränkten schriftstellerischen Fähigkeiten. Michel Houellebecq ist Europäer. Er steht in einer langen Tradition sich radikal gerierender Autoren. Dabei ist er nicht zu den französischen Intellektuellen Schriftsteller-Philosophen wie Sartre, Beauvoir, Camus etc. zu rechnen, sondern zu eher zu den wilden Poeten und Skandalautoren wie Rimbaud oder Celine. So ist Houellebecq einerseits in der literarischen Tradition verwurzelt und wird auch als Literat rezipiert. Andererseits agiert er aber auch auf dem Pop-Markt. Und hier laufen seine Aktivitäten tatsächlich auf ein "Branding" hinaus: Produkte, die unter dem Markennamen Houellebecq verkauft werden.


Virginie Despentes dagegen in eine Traditionslinie einzuordnen, fällt schwer. Despentes kommt eigentlich nicht aus der Literatur. Als Autorin schöpft sie aus der Populärkultur, aus Film, Fernsehen, Pornobusiness, vielleicht noch Pop-Musik. Das bedeutet, daß Despentes ihre Bücher von vorn herein als Pop-Produkte versteht, nicht aber als Literatur. Unterfütterung mit philosophischen, literarischen und aktuellen politischen - also bürgerlichen - Diskursen findet bei ihr nicht statt. Und genau deswegen ist Virginie Despentes die radikalste und provokanteste der neuen französischen Autoren.

Michel Houellebecq


Virginie Despentes

In den letzten Jahren allerdings hat sich in der französischen Literatur eine Opposition gebildet, die den amerikanischen Vorbildern an Radikalität in nichts nachsteht.
 

Scheinbar aus dem Nichts kam im Sommer 2001 Frederic Beigbeder dazu. Dabei hatte der Mann vor "99 Francs" schon 4 Romane veröffentlicht; er schreibt als Kritiker über Literatur. In erster Linie aber ist er Medienprofi. Beigbeder weiß um die Gesetze der massenmedialen Inszenierung. Sein "Roman" ist eigentlich gar keiner: Es ist ein Medienspektakel, daß eher nach den Regeln funktioniert, die auch für Late Night Shows oder Big Brother gelten.

Der Coup war perfekt eingefädelt: Als Top-Werber kündigte Beigbeder an, seine Branche gnadenlos zu attackieren, sie zu demaskieren, und damit seinen Rauswurf zu provozieren. Genau dies passierte, und erwartungsgemäß stürzten sich die Medien darauf. Nebenbei versicherte sich Beigbeder der Unterstützung Houellebecqs: die französischen - und mittlerweile auch die deutschen - Bestsellerlisten waren gestürmt. Und die Medienmaschinerie war in Gang gesetzt: Talkshows, Interviews, Auftritte im TV, Angebote für Romane, Artikel, Kultursendungen, Drehbücher....

Mittlerweile streitet Beigbeder sich vor Gericht mit seinem ehemaligen Arbeitgeber um eine riesige Abfindung, während er in Interviews z.B. mit Focus den dritten Weltkrieg erklärt zwischen denen, "die nur ans Geld denken. Auf der anderen Seite die Kreativen, die eine bessere Welt wollen. Es ist der Kampf zwischen Kommerz und Kunst." Und was sagt er über die Möglichkeiten radikaler Gesellschaftskritik: "Die Leute gehen heute lieber ins Kino, sehen fern oder hängen vor der Playstation, statt Romane zu lesen. Also müssen Autoren sie auf ihre Bücher aufmerksam machen. Provokation ist eine Möglichkeit, ihnen zu sagen: Wacht auf, beobachtet eure Umwelt, macht euch euer eigenes Bild, werdet euer eigener Regisseur. Deshalb lege ich mich für Ihren Fotografen ins Bett und setze meinen Motorradhelm auf. Ein Autor kann sich wie ein Popstar benehmen, er kann die gleichen Verfahren anwenden, um aufzufallen."

Frederic Beigbeder

Frederic Beigbeder ist Medienprofi, sein Roman "39,90" ein perfekt geplantes Medienspektakel
 

Einen Kampf auf Leben und Tod hat auch Michel Houellebecq ausgerufen: vorsichtshalber der Realität, die kann sich wenigstens nicht wehren. Sowohl Houellebecq als auch Beigbeder verstehen die Kultur als Gegenpol zum Kommerz. Dies ist im Kern sehr altmodisch, es ist sehr europäisch, und die Medienmaschinerie frisst es mit Begeisterung. Unverdaulich, nicht konsumierbar ist daran nun wirklich gar nichts.

Aber vielleicht ist es auch genau umgekehrt: In "39,90" spielt eine Kampagne für den Lebensmittelkonzern "Madone" eine große Rolle. "Madone" ist Danone, und gegen Massenentlassungen bei eben diesem Konzern gingen am 09.06.01 zehntausende von Parisern auf die Strasse. Dies ist natürlich nicht Frederic Beigbeder zu verdanken. Aber möglicherweise funktioniert das Konzept Gesellschaftskritik als perfekt kalkuliertes Entertainment eben doch. Zumindest scheint es derzeit kaum eine andere Möglichkeit zu geben, Gesellschaftskritik in Literatur zu verpacken und gehört zu werden. Böll ist tot, es lebe Beigbeder?

 
möglicherweise funktioniert das Konzept Gesellschaftskritik als perfekt kalkuliertes Entertainment eben doch


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