Raymond Carver:


Würdest du bitte endlich still sein, bitte


Erzählungen.
Berlin Verlag, 2000.
326 S.

Angeln ist besser als in die Schule zu gehen. Zweifellos. In einer von Raymond Carvers Kurzgeschichten hatte der Junge keine leichte Nacht hinter sich. Im Halbschlaf hatte er mitanhören müssen, wie sich seine Eltern stritten. Deshalb wollte er krank sein am nächsten Morgen. Vielleicht wünschte er auch nur ihre Aufmerksamkeit. Jedenfalls durfte er ohne ärztliche Diagnose zu Hause bleiben. Natürlich gab die Wohnung nichts Unentdecktes her. Und anders als sonst sollte er schon sein, der schulfreie Tag, der eigentlich keiner war. Sein Vater fuhr oft mit ihm und seinem Bruder Georg zum Fluß. Kann sein, dass der Junge deshalb fischen gehen wollte. Und: Fische streiten nicht laut.

Lautlos ist auch die Mutter, die ihren Sohn nur noch auf Zeitungsausschnitten und in Fernsehsendungen zu erkennen glaubt. Er hat sie irgendwann verlassen. "Warum mein Schatz?", diese Frage wird ihr in der kurzen Geschichte ihres Lebens nicht beantwortet. Auch hier werden anfängliche Risse zu unüberwindbaren Gräben. Beziehungen zu Gefängnissen. Mit dem Urteil lebenslänglich. Der Autor ist erbarmungslos. Oder ist es das Leben? In einer Textstelle heißt es: " ...Weder von Bildern, die sie gesehen, noch aus Büchern, die sie gelesen hatte, hatte sie erfahren, dass ein Sonnenaufgang etwas so schreckliches war".


Es wäre nicht Carver, wenn er eine Antwort gäbe. Er sieht einfach nur hin. Und wir, ohne das wir uns dagegen wehren können, sind mitten in einem Drama, das bei ihm Familienleben heißt. Spannend? Durchaus. Carver verwendet Sprache so gekonnt, dass selbst das Blumen gießen bei den Nachbarn seine Banalität verliert. " Er durchwühlte die oberen Schubladen, bis er die Höschen und einen Büstenhalter fand. Er stieg in das Höschen und zog den Büstenhalter um sich herum, dann sah er den Schrank nach einem Kleid durch." Sobald er oder sie - nie zusammen - die andere Wohnung betreten, öffnen sich nicht nur fremde Türen. Sondern öffentliche Tabuzonen. Sie erleben beide nahezu identische Augenblicke, vermeintlich unbeobachtet, allein. So müssen sie nicht erklären, wozu sie nicht in der Lage wären. Am Schluß ist es Carver, der ihnen den Schlüssel dazu verwehrt.

In Raymond Carvers Erzählungen gibt es kein Happy End - kaum ein richtiges Ende. In Keiner. Alles ist offen. Die Figuren sind ins Leben entlassen, aus dem er sie für einen kurzen Moment herausgerissen hat. Jede Geschichte eine andere Bühne, auf der die reden, die nichts zu sagen haben. Wir lesen amerikanische Alltäglichkeiten, die nirgendwo auf der Welt anders sind. Die Schlaflosigkeit, die immer unerfüllten Wünsche, die Chipstüten und Alkoholflaschen, die identischen Wohnungen mit ihren komischen Nachbarn, die immer laufenden Fernsehgeräte, die schweigenden Männer und sprachlosen Frauen - Monotonie, die das Leben schreibt. Carvers Texte sind leise, melancholisch, aber unerbittlich. Schonungslos wandert sein Blick ins Verborgene. Und wir warten mit Spannung auf das, was nicht kommt. Die Leiter aus einem Käfig, der Leben heißt. Seine einfache - zweifellos literarische - Sprache vermittelt Nähe. Doch bevor wir uns mit einem der Protagonisten identifizieren können, hat sein Blick diesen schon wieder verlassen. Neue Geschichte, neues Unglück. Zum Glück, denn vielleicht machen wir ja alles besser. Carver jedenfalls läßt es offen.


So hat auch "Keiner etwas gesagt", als der Junge mit einer sagenhaft großen Fischhälfte - dem Kopf und was noch dran hing - nach Hause kam. Die Eltern stritten wieder. Und nichts mehr wünschte er sich als: Seid bitte endlich still, bitte.

"Würdest du bitte endlich still sein, bitte" ist der Titel von Raymond Carvers soeben in Deutschland erschienenem Buch. Zuerst veröffentlicht wurden die Erzählungen 1976 - in Amerika. Hierzulande musste man 24 Jahre warten. Leider haben wir heute auch die Gewissheit, dass die Lücke, die entsteht, bleibt. Der "gute Ray" (Richard Ford) wird sie nicht mehr schließen. Also genießen wir jede einzelne Geschichte, wie das Filetstück auf einem Teller, das immer bis zum Schluss aufgehoben wird.

Kerstin Kitscher
 


Zuletzt geändert am 31.07.2000 ©Kitscher/u-lit