So präzise, daß es schmerzt


Rafael Chirbes:
Der Fall von Madrid.

Roman. Kunstmann, 2000.
301 S.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz

Deutsche Leser, die die Nazizeit noch erlebt haben, tun sich schwer mit Rafael Chirbes Büchern. Es ist, als rissen seine Beschreibungen der Folgen des spanischen Faschismus die schützenden Hüllen von den alten Verwundungen und dem Verdrängten. Die Deformationen, die eine Gesellschaft durch faschistische Diktaturen erleidet, betreffen die Opfer, sie machen aber auch vor den Tätern nicht halt. Und diese Verwüstungen bleiben, auch nach der Zeit der Diktatur, bestehen, sie ragen weit in die Gegenwart hinein.
Der Schriftsteller Chirbes ist kein Ankläger, aber er will auch kein Heiler sein, kein großer Versöhner. In seinen Romanen führt er das fort, was er als Student der Geschichte begonnen hat. Er erforscht die Gesellschaft, in der er lebt, und dabei arbeitet er so präzise, daß es schmerzt.

"Der Fall von Madrid" setzt genau an dem Zeitpunkt an, an dem sein bisher größter Roman, "Der lange Marsch" aufgehört hat. Es ist das Ende der Franco Diktatur, genauer gesagt, der Tag, an dem Franco stirbt. Der alte Mann liegt seit Wochen mehr tot als lebendig in seinem Palast, umgeben von Ärzten, Priestern, Politikern, Militärs. Halb ersehnt ein ganzes Land seinen Tod, halb fürchtet es sich davor. Lähmung geht einher mit spontanen Gefühlsausbrüchen - „Adieu von Herzen“ wird in einem vollbesetzten Bus gesungen, der den Palast passiert - halbherzige Aufstandsversuche stehen neben der Routine des Mordens der Polizei.


Der Morgen und der Nachmittag dieses einen Tages bilden den Rahmen für das Tableau, mit dem Chirbes den Übergang Spaniens von der Franco Diktatur zur konstitutionellen Monarchie beschreibt. Nach dem selben Prinzip wie "Der lange Marsch" gebaut, besteht das Buch aus einer Vielzahl von Figuren, deren Leben sich mit denen der anderen Personen berührt. Im Zentrum steht die Familie Ricart, schwer reich geworden durch Schwarzmarkt Geschäfte nach dem Bürgerkrieg und durch beste Verbindungen zum Regime. Don Jose, dessen 75 jährlicher Geburtstag gefeiert werden soll, ist noch immer der Patriarch des Clans, dessen Geschäfte von seinem Sohn Tomas geführt werden. Tomas weigert sich, die „Politik“ überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, während der Alte schon die Arrangements mit den neuen Machthabern plant. Tomas Söhne hingegen sind noch auf der Suche nach einem Platz in der sich abzeichnenden Gesellschaft. Josemari, der Ältere, phantasiert sich in die Rolle des Beschützers von Erbe und Tradition und spielt mit Blauhemd und Baseballschlägern, Quini, der intelligentere, jüngere der Beiden, gibt an der Universität den Ästheten und Revolutionär.

Es ist keineswegs eine Familiengeschichte, die Chirbes erzählt. Alle Mitglieder dieser Familie, und dazu gehören, in dieser Erzählung, völlig gleichberechtigt auch die Frauen, sprechen nur für sich, und stellvertretend für viele andere, anonym bleibende, nicht aber für ihre Familie. Dazu kommen weitere Figuren, die alle in ihrer gesellschaftlichen Rolle paradigmatisch sind, und trotzdem Persönlichkeiten mit unverwechselbaren Biographien sind. Um das zu tun, was in einer Rezension eigentlich Pflicht ist, nämlich eine Vorstellung von der Handlung zu geben, müßte man alle diese Personen beschreiben; den gefürchteten und getriebenen Kommissar und Folterer, die moderne Künstlerin und ihr Lavieren zwischen Opposition und Regime, deren Mann, den Professor für Literatur; der alte Partisan, der in der Nacht von Francos Tod umgebracht werden wird: Sie alle stehen vollkommen gleichberechtigt nebeneinander.


Das macht die erstaunliche Überzeugungskraft von Chirbes Stil aus, das er es schafft, absolut unverwechselbare Individuen so mit der „Geschichte“ zu verknüpfen, daß von diesem gesellschaftlichen Ausschnitt tatsächlich ein Gesamtbild extrapoliert werden kann.
Die erzählerischen Mittel, derer Chirbes sich bedient, wirken auf den ersten Blick recht altmodisch. Schon der Versuch, eine ganze Gesellschaft erzählerisch erfassen zu wollen, ist ein Anachronismus. In "Der Lange Marsch" führte dieser Versuch tatsächlich zu einer gewissen Schwerfälligkeit, das Bemühen um das Gesamtbild wurde deutlich und verriet sich in Sätzen, die so auch in Romanen der Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts hätten stehen können.

Der Nachfolger, " Der Fall von Madrid", tut sich da leichter. Das Prinzip - an den klassischen modernen Text, Ulysses, erinnernd - einen Tag als erzählerischen Rahmen zu benutzen, läßt diese Sammlung von Erzählungen zwangloser zu einem Roman zusammenwachsen als die lange Dauer des Vorgängers. Das so entstehende Fresko ist aufgeladen nicht nur mit politischer Geschichte, sondern ebenso mit der vorsichtig den Anschluß an Resteuropa versuchenden intellektuellen Entwicklung jener Zeit.
Was Rafael Chirbes also schafft, läßt sich als die Wiedergeburt des psychologischen Realismus mit modernen Mitteln beschreiben. Gelingen tut dieses, weil Chirbes nicht nur ein radikal ernsthafter, nüchterner Beobachter und Forscher ist, sondern auch ein leidenschaftlicher und sehr, sehr guter Erzähler.

 


Zuletzt geändert am 10.09.2000 ©u-lit